Wie kommt es, dass Liebe obsessiv wird?
Dass man trotz Stress, Streit und Zerwürfnissen immer wieder an den Anderen denken muss – und ihn oder sie einfach nicht los wird?
Im ersten Teil hatte ich bereits ein erste Ursache kredenzt: Verdrängter Schmerz.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum wir der „Seeehn-Sucht“ anheim fallen und von Permanentgedanken an einen anderen Menschen attackiert werden.
Eine der Kernthesen aus dem ersten Teil lautete: Wenn wir Schmerz verspüren und dann immer wieder gegen ihn Widerstand leisten, in dem wir ihn verdrängen oder betäuben wollen, kann es zu einer Abspaltung kommen.
Der verletzte Anteil, der den Schmerz verspürt, landet in einer Art „Schattenreich“, an dessen Grenzen Wächtergefühle wie Schuld, Scham aber auch Ärger und Wut patrouillieren. Ihre Aufgabe: Uns vor den negativen Gefühle zu bewahren und zugleich zu verhindern, dass irgendjemand dort draußen das Verletzte in uns erneut antriggert.
Da wir innerlich dem Schmerz nicht wirklich gewachsen sind (und ihn deswegen wegsperren müssen), suchen wir nach „Heilung“ dort draußen. Vielleicht kann uns ja die große Liebe vom Schmerz erlösen?
Tatsächlich funktioniert das auch anfangs. In der ersten Phase der Verliebtheit fühlen wir großartig – bis unser Partner oder Partnerin gewollt oder ungewollt die Liebeszufuhr unterbricht. Vielleicht weil der oder die Andere gerade unter Stress steht, vielleicht aber auch, weil sie bereits das „Dramaland-Spiel“ spielt.
Was das ist?
Mehr dazu gleich.
In dem ersten Teil hatte ich außerdem einen Mann vorgestellt, der schon morgens, wenn er aufwachte, sofort an seine Ex-Freundin denken musste. Obwohl schon seit Monaten Schluss war, „klebt sie in Gedanken den ganzen Tag an mir. Ich komme einfach nicht von ihr los“, erklärte er mir.
So weit, so schlimm.
Allerdings war das noch nicht alles.
Wenn sich die Ex bei ihm meldete, fühlte er sich eher genervt. Grund: „Ich muss an den ganzen Stress denken und wie mich das fertig macht.“ Und dann wurde er oft abweisend und ging oft auf Distanz zu ihr.
Toxische Liebe: Den täglichen Trotz gib mir heute
Sobald wir in die Fänge einer toxischen Beziehung geraten, werden wir Sklave und Freiheitskämpfer zugleich.
Auf der einen Seite sind wir scheinbar Gefangene von äußerst unangenehmen Gefühlen – und auf der anderen Seite brandet genau deswegen ein starker Trotz in uns auf, der die Verstrickung um jeden Preis zerschlagen möchte.
Das erklärt, warum der Mann so genervt reagierte: Sobald er die Aufmerksamkeit seiner Ex erhielt, war der bedürftige Anteil in ihm befriedigt („Ich bin ja doch für sie wichtig. Ich bin also doch liebenswert.“) Und das schaffte Raum für den Widerwillen in ihm, der sich die Freiheit von all den Abhängigkeiten auf die Fahne geschrieben hatte.
Und da er fälschlicherweise dachte, dass die Frau dafür die Schuld gepachtet hatte, richtet sich seine Aversion gegen sie.
Und genau das war sein Ticket für…
Das „Dramaland-Spiel“ der Liebe
Die Überschrift trügt. Alles, was jetzt folgt, hat mit Liebe nichts mehr zu tun. Ganz im Gegenteil: Weil unsere Emotionen zu einem wirren Durcheinander von „Himmelhochjauchzend“ zu „Tode betrübt“ verkommen sind, übernimmt unser Verstand die Regie.
Allerdings versteht er von Empathie, Mitgefühl oder Hingabe nur wenig – wenn überhaupt.
Was er jedoch beherrscht: Die Schachspielerei. Und so beginnt er seine „Züge“ generalstabsmäßig zu planen: Wie kann ich sie am meisten locken, dass sie auf mich steht? Was sage ich zu ihr? Und was lieber nicht? Oder ist es erstmal mich so rar zu machen, bis sie es nicht mehr aushält und auf mich zukommt?
Genau das ist der Verlauf des Spiels „Komm her / geh weg“, das nicht lange gut geht.
Früher oder später reißt einem der Beteiligten dabei der Geduldsfaden und wird ausfällig.
Die Bestrafung kommt in Form von Angriffen und Konflikten postwendend:
Verletzungen werden mit einem „Silent Treatment“ geahndet
Statt auf die Angriffe zu reagieren, wird geschwiegen.
Während man anfangs sich tagaus und tagein liebevolle WhatsApp geschrieben und– wann immer man konnte – auch noch telefoniert hatte, beherrscht das Schweigen die Szenerie. Die Folge: Wir werden oft in einen Strudel aus Schuld- und Schamgefühlen.„Was habe ich nur falsch gemacht?“ Oder: „Bin ich zu weit gegangen? Hätte ich doch nur nicht…“
Das „Dramaland-Spiel“ ist vom Wesen her manipulativ.
Wie oben gesagt, hat das „Dramaland-Spiel“ nichts mit Liebe zu tun. Sondern mit Kontrolle. Da wir weder zu große Nähe, noch zu großen Abstand aushalten, versuchen wir alles, um den Anderen in den Griff zu bekommen. (Mehr dazu oben im Video).
Das kann man verurteilen. Sollte man aber nicht. Denn verletzte Liebe ist emotional kaum auszuhalten.
Dennoch zieht uns das „Dramaland-Spiel“ runter: Das ewige „Komm her/geh weg“ produziert ein permanentes emotionales Auf und Ab.
Wirkliche Offenheit gibt’s dabei nicht, denn beim „Dramaland-Spiel“ hat das Herz schon lange dicht gemacht („Wegen Widerstand geschlossen“).
Stattdessen hat ein zweifel- oder gar angstgetriebener Verstandesanteil seinen Platz eingenommen, der das Miteinander durch Taktieren zu dirigieren versucht: Was darf bzw. soll ich sagen? Und was nicht? Wie viel darf ich zeigen, bevor es zu brenzlig wird? Und wo sollte ich mich schützen?
Das alles verschlingt unglaublich viel mentale und emotionale Energie. Aber ohne sichtbare Ergebnisse. Denn das „Dramaland-Spiel“ bringt nichts Produktives zustande. Ganz im Gegenteil: Es kostet einfach nur unglaublich viel Zeit, Kraft und Nerven.
Das gilt auch für all die Freunde und Bekannten, die wir ins eigene Gemengelage einspannen – und die sich zu Anfang oft auch gerne einspannen lassen. Denn für sie sind die „Storys“, die wir ihnen erzählen („Du glaubst nicht, was mir gestern wieder passiert ist…“) so spannend wie eine Fernsehserie á la „Games of Thrones“ oder „Haus des Geldes“.
Denn auch unsere Vertrauten sind häufig in „Dramaland-Spiele“ gefangen und bringt seine eigene unaufgearbeitete Agenda durch Tipps und Ratschläge ein, die oft alles nur noch verschlimmbessern.
So entsteht ein energetisches Feld, das sich immer weiter ausbreitet, je mehr Akteure es vereinnahmt.
Statt seinem eigenen Herzen, seiner eigenen Intuition zu folgen, wird man durch ein Wirrwarr unterschiedlichster Meinungen in Beschlag gehalten und man weiß einfach nicht mehr, was richtig und was falsch ist.
Natürlich nutzt die ganze Taktiererei des Schachspielens überhaupt nichts. Statt Erlösung und Befreiung zu ermöglichen, werden wir noch mehr denn je von obsessiven Gedanken heimgesucht.
Und das bringt mich zurück zu dem Mann, der seine Ex nicht vergessen konnte.
Wie man eine Obsession zu heilen beginnen kann
In der Coachingsitzung bat ich ihn, in sich hinein zu fühlen: „Stell Dir vor, es ist morgens, Du bist gerade aufgewacht und Du musst an Deine Ex-Denken – kannst Du das?“
„Ja.“
„Wo nimmst Du die Gedanken an Deine Ex wahr?“, fragte ich.
„Irgendwie über mir“, sagte er und zeigte auf eine Stelle rechts oben, knapp 5 cm vom Kopf entfernt.
„Ok“, erwiderte ich, „und nun möchte ich Dich bitten, den Anteil in Dir wahrzunehmen, der die Vorstellung von Deiner Ex produziert.“
Er sah mich irritiert an.
„Etwas in Dir sorgt dafür, dass Du an Deine Ex denken musst. Und auch wenn Du das nicht magst, so bin ich mir ganz sicher, dass dieser Anteil in Dir gute Gründe dafür hat. Deswegen möchte ich Dich bitten, so liebevoll wie möglich zu ihm sein.“
„Verstanden“, sagte er und schloss die Augen.
„Du liegst wieder in Deinem Bett“, beschwor ich ihn, „und da kommen auch schon die Gedanken an Deine Ex.“
Er nickte.
„Und jetzt nimm den Anteil wahr, von dem die Gedanken kommen.“
Er nickte erneut.
„Frag ihn, warum er die Gedanken an sie produziert.“
Ich lehnte mich entspannt zurück, denn ich war mir sicher, dass wir gleich wieder mal auf einen verletzten Anteil stoßen würden.
Aber es sollte anders kommen.
Mein Coachee öffnete die Augen und sah mich nachdenklich an. Seine Gesichtszüge wirkten plötzlich entspannt, gerade zu weich und in seinen Augen zeichnete sich ein Anflug von Tränen ab.
„Hast Du eine Antwort bekommen?“, fragte ich ihn.
„Ja,“ antwortete er mit brüchiger Stimme.
„Und?“
Er atmete tief durch: „Er hat mir gerade gesagt, er macht das, weil ich die Frau liebe.“
Für einen kurzen Augenblick blickte er nach oben, als ob er einen Gedanken zu erhaschen suchte. Dann sah er mich wieder an: „Und weißt Du, was gerade ganz komisch ist?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Der ganze Druck lässt gerade nach“, sagte er, „und ich spüre eine tiefe Traurigkeit in mir. Aber nicht, weil meine Ex gerade nicht da ist. Sondern weil ich diese Liebe für sie so ignoriert habe. Und weil wir uns so blöde Spielchen geliefert haben.“
Etwas in seiner Stimme brachte eine liebevolle Saite in mir zum Schwingen.
„Seltsam“, sagte er, „diese Liebe fühlt sich so ganz anders an. Ich habe überhaupt nicht den Drang, die Ex unbedingt wieder haben zu müssen. Irgendwie fühle ich mich sogar frei.“
In dem Augenblick schlug eine Welle der Erkenntnis über mich zusammen: Das, was ich hier gerade erlebte, war ein Paradebeispiel für „bedingungslose Liebe“.
Wenn wir im Dramland unterwegs sind, sind wir immer auf der Pirsch nach der Liebe da draußen, um einen Schmerz im Inneren zu besänftigen.
Bedingungslose Liebe jedoch geht den umgekehrten Weg: Sie kommt von Innen und möchte nach Außen strahlen.
Sie ist „bedingungslos“, weil sie nicht an irgendwelche Bedingungen geknüpft ist. Sie ist einfach da, ganz egal, ob wir mit jemanden „zusammen sind“ oder nicht.
Und mir wurde klar:
Meine These, dass toxische Beziehungen durch verdrängten Schmerz entstehen, ist nur die halbe Wahrheit
Liebe und Schmerz teilen das gleiche Schicksal, wenn wir ihnen mit Widerstand begegnen.
So wie sich Schmerz bei Widerstand in Leid verwandelt, so verkommt echte und wahrhaftige Liebe zu einer Co-Abhängigkeit, zu einer Bedürftigkeit, die zerstörerisch wirkt.
Denn die Liebe für andere Menschen ist ein Teil von uns. Und wenn wir sie bekämpfen, zum Beispiel weil wir Angst vor Enttäuschungen oder Verletzungen haben, dann spalten wir einen Anteil von uns, einen besonders liebevollen Anteil, um genau zu sein, von uns ab – und kehrt als „Bedürftigkeit“ zurück.
„Bedürftigkeit“ ist wiederum in der Psychologie die große, ungesunde Buhfrau, weil sie Beziehungen vergiftet.
Warum?
Weil sie ein Fass ohne Boden ist.
Egal wie sehr ein Bedürftiger von seinem Partner hört, wie liebenswert er ist: Jedes Kompliment, jede Liebesbeteuerung geht im Inneren verloren.
Aber die eigene Bedürftigkeit oder Co-Abhängigkeit abzulehnen, macht’s nicht einfacher, sondern schlimmer. Wenn wir ihr mit mehr vom Gleichen, also mit noch mehr Widerstand begegnen, wird sie noch stärker, und verfolgt uns überall hin.
Genau das war dem Mann widerfahren.
Das Ende der Dramalandspiele beginnt mit einem „Ja“
Als mein Coachee seine tiefe Liebe, die er für die Frau empfand annehmen konnte, verwandelte sich seine gedankliche und emotionale Fixierung in eine große, aber entspannte Zuneigung – eine tiefe, bedingungslose Liebe.
In dem er sich zu seiner Liebe zu der Frau bekannte, nahm er dabei auch sich selbst an.
Denn die Liebe ist ein Teil von uns.
Lehnen wir sie ab, werden wir „bedürftig“ und schliddern in „Dramaland-Spiele“ von „Komm her / geh weg“.
Das Spiel endet jedoch, sobald wir „Ja“ sagen. Zu uns. Und zu den Menschen, die uns am Herzen liegen.
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Zum Schluss noch ein paar Tipp: Auf der Seite zum Thema „Liebe“ findest Du weitere Infos zum Thema.
Was für eine wunderschöne, tiefgreifende und bereichernde Erkenntnis, Martin! Danke Dir sehr für diese Horizonterweiterung mit der ich sehr in Resonanz gehe. Sobald wir uns den Raum geben, einfach zu lieben – no matter the circumstances – und aus dem Selbstschutz-Modus heraustreten, kommen wir nach Hause zu uns selbst und können dadurch liebevolle Begegnungen vom Feinsten möglich machen. 🙂
Danke!!!
Sabine